WAZ Gelsenkirchen vom 22.12.2018: Wir hatten auch eine diametral abkippende Sechs
WAZ Gelsenkirchen vom 22.12.2018: Wir hatten auch eine diametral abkippende Sechs
Von Erwin Kremers, Fußball-Europameister von 1972
Ein paar fußballerische Gedanken zur besinnlichen Zeit.
Ich frage mich oft, wie wir das damals eigentlich geschafft haben, ohne Doktortitel durch ein Fußballspiel zu kommen und sogar Spaß daran zu haben.
Unser Trainer hatte noch keinen Laptop, sondern höchstens ein Festnetztelefon. Buddhistisches Ballgeschiebe wie Tiki-Taka wollte er nicht; auch keine Fußballwissenschaft aus dem Schlaflabor, es musste einfach der Rasen brennen. Deshalb hatten wir auch keine Einlaufkinder. Wenn du schlecht gespielt hast, hat der Trainer den Einlauf persönlich übernommen. Er hat nicht in Einzelgesprächen mit uns die Angst vor dem Ball mit Stoffpuppen aufgearbeitet, er hat auf dem kleinen Finger gepfiffen und wir aus dem letzten Loch.
Uns wurde auch nicht in die Ohrläppchen gepiekt, um die Laktatwerte zu messen. Wenn der Mannschaftsarzt Blut von uns haben wollte, hat er einfach nach 50 Kilometern Waldlauf unsere Schuhe ausgekippt; versuch das heutzutage mal nach Gummi-Twist und Schwangerschaftsgymnastik. Mittlerweile sind Fußballer halbe Sportmediziner. Für uns war Patella ein Brotaufstrich und eine Bänderdehnung hatten wir höchstens mal in der Unterhose.
Wir hatten keinen Matchplan, aber Lust zu spielen; der Gegner wurde nicht ausgecoacht, sondern einfach weggehauen. Der Begriff Pressing kam für uns aus dem Kreißsaal, den kannten wir von unseren Frauen, genau wie den Begriff Ultra. Der einzige Laufweg, den wir uns merken mussten, war der von der Kabine auf’s Feld. Wenn der Trainer eine flache Raute sehen wollte, brachte ihm jemand Salmiakpastillen, und das war okay.
Wir hatten auch eine diametral abkippende Sechs, allerdings erst nach dem zwölften Pils. Diagonalbälle gab’s bei uns nicht, nur runde. Und das mit diesem Packing mag ja ganz nett sein, aber bei uns war es wichtiger, nur einen Gegner zu überspielen: den Torwart. Wir hatten keine falsche Neun, keine hängende Spitze und keinen Box-to-Box-Spieler, sondern einfach eine tolle Zeit.
Diese Gedanken sind eher als schöne Erinnerung gedacht, weniger als wehmütiges „Früher war alles besser“. Obwohl – irgendwie vielleicht doch.
Viel Spaß in der Winterpause